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Wir werden weggehen.
Ich drehe mich um und versuche die Sprecherin zu finden. Zuerst sehe ich niemanden, doch dann meine ich, im Schatten unter dem überhängenden Fels eine Gestalt zu erkennen. Ich weiß, dass die San schon lange nicht mehr in dieser Region leben, und doch sehe ich diese alte Buschmannfrau deutlich vor mir und höre sie erzählen.
Wir werden weggehen. Es ist eine gute Zeit gewesen. Deshalb ist unsere Sippe nicht mehr, wie es Brauch ist, weitergezogen. Zwischen den beiden Bergen hatten wir Schutz gefunden vor dem kalten Wind, von den Beeren der Büsche hatten wir uns ernährt, an ihrem Feuer uns gewärmt und zum Wasser war es nicht weit. Auch hatten wir an unserem geheimen Versammlungsort viele mit Wasser gefüllte Straußeneier versteckt. Aber jetzt ist die Quelle ausgetrocknet, und es wird immer schwieriger, genug Wasser für alle zu finden. Geregnet hat es schon so lange nicht mehr, dass viele Kinder gar nicht wissen, wie sich Regen anfühlt.
Auch die letzte Versammlung hat keine günstigeren Zeichen gebracht. Es dauerte sehr lange, bis sich der Geist des Medizinmanns öffnete. Und dann tanzte er den Gemsbock. Von allen möglichen Tieren tanzte er die Antilope, die in der Wüste am längsten ohne Wasser leben kann. Als er aus der Geisterwelt zurückkehrte, schwiegen wir alle. Aus Speichel, Blut und einem der Pulver, die er immer bei sich trug, mischte der Medizinmann eine Paste. Mit ihr malte er den Gemsbock weiß an die Wand. Weiß, die Farbe der Reinheit, aber auch die Farbe der Trauer. Diesen Gemsbock malte er ganz klein unter die Füße des großen roten Nashorns, das der Vater seines Vaters hier angebracht hatte.
Damals war ich noch ein kleines Mädchen, aber ich kann mich gut daran erinnern. Groß war die Freude gewesen, als einer der Spurenleser die Nachricht brachte. Der Jäger hatte einen Klippspringer geschossen, dessen Fleisch machte die Sippe nicht satt. Doch diese kleine Antilope zeigte vor ihrem Tod dem Spurenleser den Weg zu dem versteckten Platz. Es war schwierig, zu ihm zu gelangen, denn der einzige Weg führte über eine glatte Felsplatte. Doch das machte ihn um so sicherer. Er wurde unser Zufluchtort, an den wir uns zurückzogen, wenn unten in der Ebene Gefahr drohte. Unter dem großen Felsdach hielten wir die Versammlungen ab. In der ersten Nacht an diesem Ort tanzte der Medizinmann das Nashorn, die Freude war groß. Denn das Nashorn ist das Zeichen der Beständigkeit und Treue. So malte er als erstes Tier ein großes Nashorn in die Mitte der Wand. Ein rotes Nashorn, in der Farbe des Lebens.
Seither wurden viele Tänze getanzt, viele Zeichen, viele Malereien hinzugefügt. Und heute, als letzte, der weiße Gemsbock.
Während die Stimme in meinem Kopf verklingt, blicke ich auf das verblasste aber noch deutlich sichtbare große rote Nashorn an der Felswand. Und dann entdecke ich auch, klein, weiß und kaum noch zu erkennen, den weißen Gemsbock unter seinen Füßen.
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